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„Nein, schildern kann man solch einen Menschen nicht,
man muss ihn jeden Tag neu erleben.“

Margarethe von Loë (1866-1943) über ihre Freundin und Kompositionslehrerin Ella Adaïewsky

„Bald ausgelassen lustig, voller Witz und Schabernack, dann fast kindlich naiv, mit Interesse für die einfachsten Dinge und Menschen, unpraktisch, weltfremd, abhängig davon, dass ihr mit allen Vorkommnissen des täglichen Lebens geholfen wird und dann blitzartig das sichere Überblicken von schwierigen Situationen, das Sicheinfühlen in fremde Seelenvorgänge, das scharfe, logische Denken, die unerbittliche Kritik, wenn es gilt, eine Arbeit auf dem Gebiete der Kunst gegen leichtfertiges, dilettantisches Urteil zu analysieren. Und dabei die Nachsicht und Güte, mit der sie andere Künstler und ihre Leistungen beurteilt. Immer ist sie bestrebt, ihre guten Seiten herauszufinden, zu loben, was zu loben ist, und die Schwierigkeiten hervorzuheben, die sich ihnen entgegenstellen. Zurückhaltend und nie bestrebt, ihr eigenes Können zur Geltung zu bringen, fast zu bescheiden und doch sich ihres eigenen Wertes voll bewusst. Nein, schildern kann man solch einen Menschen nicht, man muss ihn jeden Tag neu erleben. [...]

Und wie spielte sie! Nach solcher Musik hätten Könige gern getanzt! Natürlich lernte ich Ella von dieser Seite erst später kennen. Anfänglich sah ich in ihr vor allem die Künstlerin, die Schriftstellerin und die hochgebildete geistvolle Frau. Sie beherrschte die deutsche, englische, französische Sprache gleich gut, und zwar schrieb sie musikologische Aufsätze in allen diesen Sprachen. Auch Russisch und Italienisch waren ihr geläufig, und sie konnte genug Latein und Griechisch, um sich bei wissenschaftlichen Ausführungen helfen zu können. Sie war aber weit davon entfernt, den Eindruck eines Blaustrumpfes oder einer Gelehrten zu machen. Sie wirkte vielmehr ganz als Dame der Gesellschaft. Sie war groß, hatte eine schöne, ebenmäßige Gestalt, eine aufrechte Haltung und konnte zuweilen etwas geradezu Imponierendes haben. Noch im Alter war sie eine schöne Frau, die die jungen in den Schatten stellte. [...]

Nie wollte sie ihr Können zeigen, sondern sie wollte nur die Komposition zur Geltung bringen. Sie versenkte sich ganz in den Geist des Komponisten und gestaltete dann, mit der ihr eigenen Kraft, die Schöpfung neu. Jede Effekthascherei lag ihr fern und ihr tiefgehendes Studium der Musik befähigte sie, bis in die feinsten Nuancen einzudringen. Dabei beherrschte sie die Technik ihres Instrumentes auf erstaunliche Weise, ihr Spiel war differenziert im Anschlag wie bei wenigen, die Ausbildung ihrer Hände eine außergewöhnliche. Der Klarinettist [Paul] Gloger [aus Köln], der neben ihr saß, als sie spielte, und sie genau beobachtete, sagte mir nachher, er habe nie einen so durchgebildeten 4. Finger wie bei ihr gesehen. Die Henselt’sche Schule hatte ihr vor allem das vollendete Legatospiel und die wundervolle Rundung des Tones gelehrt, während Dreyschock ihr die Klarheit und unbedingte Sauberkeit gegeben. In Warschau haben die Menschen von ihrem Chopinspiel gesagt, dass man bei ihr die Nebenstimmen so deutlich höre, dass man oft eine ganz neue Komposition zu hören glaube. Das was aber ihr Spiel vor allem auszeichnete, das war die Plastik der Wiedergabe, die dramatische und lyrische Gestaltungskraft, die ihr innewohnte, die sie bis in ihr höchstes Alter bewahrte. [...]

In den letzten Jahren waren es besonders die Mazurkas, die es ihr angetan. Sie teilte sie in Ritter-, Bauern- und Traumtänze ein, und letztere wurden unter ihren Fingern zu wunderbar zarten, fast überirdischen Gebilden. Sie konnte sich nicht genug in der Gestaltung dieser Mazurkas tun, für die meisten hatte sie Namen erfunden, die ihren Geist wiedergaben. Ihr phänomenales Gedächtnis befähigte sie bis kurz vor ihrem Tod, immer neue Stücke auswendig zu lernen, sie hatte ein Riesenrepertoire und oft hat sie für mich zum Spaß wochenweise immer nur einen Komponisten zu Worte kommen lassen: Weber, Schumann, Bach, Beethoven, Henselt, Chopin, Liszt, Debussy. Für letzteren hatte sie eine große Vorliebe, sie sagte immer, seit Chopin wäre er derjenige gewesen, der die meisten neuen Effekte für das Klavier gefunden und so recht für das Instrument komponiert habe. Er sei vor allem Maler gewesen, und so müsse man seine Sachen auch spielen. Sie war extra nach Holland gefahren, um ihn selbst spielen zu hören und sagte oft, sie habe erst dadurch das rechte Verständnis für seine Musik bekommen. Man vergaß vollkommen das Klavier, wenn sie Vent dans la plaine spielte, man glaubte wirklich das Rauschen, Brausen und Verhallen des Windes zu hören, welcher über die Heide hinwehte.

 So sehr Fräulein von Adaïewsky aber auch die Romantiker und Impressionisten liebte, ihren musikalischen Tag fing sie immer mit Bach an, vor allem mit Fugen aus dem wohltemperierten Klavier, [sowie] der chromatischen Phantasie, die sie besonders liebte.

 Ich glaube, dass sie während ihres langen Nomandenlebens sich eine große Unregelmäßigkeit angewöhnt hatte, sie arbeitete zuweilen intensiv, dann wieder ließ sie sich von den Ereignissen des Tages treiben. Im Grunde war sie aber eine ordnungsliebende Natur. In der Stille des Landlebens hatte sie sich bald ihren Tag fest eingeteilt und hielt an diesen Stunden fest. Sie sagte immer: ‚Für einen faulen Menschen bin ich fleißig.‘ Sie war aber überhaupt nicht faul, sondern im Gegenteil eminent fleißig, weil sie alles, was sie tat, mit größter Intensität verrichtete. Sie hatte so vielerlei Interessen, dass ihr nicht viel Zeit für jedes blieb, und so suchte sie sie möglichst konzentriert auszunutzen. Mehr als eine halbe Stunde glaubte sie nicht auf das Üben verwenden zu können, aber diese halbe Stunde war ihr heilig.

 Jeden Morgen kurz vor 8 Uhr konnte man sie ihre Henselt’schen Fingerübungen machen hören, von denen sie dann zu Bach überging. Eine Engländerin, Miss Edwards, die bei uns zu Gast war, hatte ihr geraten, jeden Morgen eine kalte Abreibung zu machen und dann wieder ins Bett zu gehen. Das tat sie sehr treulich in aller Frühe und empfand es als eine große Erfrischung. Meistens schlief sie danach noch eine Stunde ein. Sie tat es nie, ohne sich zwischen alle Finger Pfropfen zu legen, um die Spannung der Finger zu erhalten, auch benutzte sie, während sie las, einen Fingerspanner, den ihr Elly Ney empfohlen.

 Nach dem Frühstück setzte sie sich an ihre schriftlichen Arbeiten, und um 12 Uhr machte sie, begleitet von den zwei Hunden, ihren täglichen Spaziergang. Aber auch auf diesem war sie nicht müßig. Im Sommer horchte sie auf den Gesang der Vögel, notierte ihn in ihrem Notizbuch, machte daran Studien, oder sie lernte auswendig – eine Zeitlang die Gerusalemma liberata von Tasso, Balladen oder Psalme. Sie hielt dies für notwendig, um ihr Gedächtnis in Übung zu erhalten, was ihr auch in erstaunlicher Weise gelungen. Mit 77 Jahren lernte sie in kurzer Zeit die h-Moll-Sonate von Liszt auswendig, eine Leistung, die alle diejenigen würdigen werden, welche dieses Stück kennen. Sie sah die Noten vor dem Ausgehen an und memorierte sie dann unterwegs. Oft sang sie auch laut vor sich hin, um die Tempis auszuprobieren, was die vorübergehenden Arbeiter nicht wenig wunderte. – Der Arzt hatte ihr sehr dringend angeraten, möglichst oft an die Luft zu gehen, weil das übermäßige Rauchen ihr recht schädlich war. Sie konnte es aber nicht unterlassen und wenn ich auch die Zigaretten rationiert hatte, so brauchte sie zum Schreiben immer eine gewisse Anzahl. Sie bildeten ihr eine Atmosphäre, die sie abschlösse und deshalb erst zum Arbeiten stimmten. [...]

 Oft nahm sie, um den Vogelgesang ganz genau notieren zu können, im Arm das Metronom mit, die Stimmgabel und ein kleines Notizbuch mit Bleistift. So ausgerüstet konnte man es den einfachen Leuten, die sie nicht näher kannten, kaum verdenken, dass sie sie bei Ausbruch des [1. Welt-]Krieges für eine gefährliche Spionin hielten. Sie hielten das Metronom wohl für ein Wurfgeschoss!“