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Ella Adaïewsky (1846–1926)

Pianistin, Komponistin und Musikwissenschaftlerin
 

„E. Adaïewsky“ lautet der Künstlername der jungen Frau, deren Chorwerke 1870 im russischen Pfingstgottesdienst in Bad Ems erklingen – in Anwesenheit und auf ausdrücklichen Wunsch Zar Alexanders II., vorgetragen von den Sängern der Kaiserlichen Hofkapelle. Als Elisabeth Schultz, genannt „Ella“, wird sie am 10. Februar 1846 (Julianischer Stil) in Sankt Petersburg geboren. Sie ist das älteste der fünf Kin­der des Arztes Dr. Georg Julius Schultz [ab 1856 von Schultz] und seiner Frau Theodora. Ellas Vater ist baltischer, die Mutter norddeutscher Herkunft. Beide Eltern sind sehr musikalisch. Die Mutter, Schülerin und Assistentin des zu dieser Zeit weltberühmten Komponisten, Pianisten und Musikpädagogen Adolph Henselt, unterrichtet Klavier an einem vornehmen Sankt Petersburger Mädcheninstitut.

Vom 6. Lebensjahr an erhält Ella regelmäßigen Klavierunterricht, zunächst bei ihrer Mutter, dann bei Adolph Henselt, während eines längeren Deutschlandaufenthaltes bei der Liszt-Schülerin Martha von Sabinin. Auf dieser Reise wird der Mutter bewusst, dass Ella ungewöhnlich großes Talent hat, und da es um die finanzielle Situation der Familie eher schlecht bestellt ist, beschließt man – in der Hoffnung auf lohnende Einkünfte –, das junge Mädchen zur Klaviervirtuosin auszubilden. Unter der Auf­sicht der ehrgeizigen Mutter, unterrichtet von Henselt und Nicolas von Martinoff, beginnt für die Dreizehnjährige eine Phase intensiven Klavierstudiums. Zwei Jahre später, im Winter 1861/62, gibt Elisabeth von Schultz in Sankt Petersburg ihr erstes öffentliches Konzert. Es wird ein großer Erfolg. Konzerte in den russischen Ostseeprovinzen, in Polen, Frankreich, England, den Niederlanden und Deutschland schließen sich an und sorgen nicht nur für Ruhm, sondern auch für die dringend benötigten finanziellen Einnahmen.

Das erfolgreiche Konzertieren einer Henselt-Schülerin im westeuropäischen Ausland hat in der russischen Hauptstadt Aufsehen erregt: Als Elisabeth von Schultz 1864 nach fast zweijähriger Abwesenheit in ihre Heimat zurückkehrt, wird sie vor allem von Adelskreisen und Mitgliedern der Zarenfamilie hofiert. Da man die junge Frau als prominente Schülerin für das kurz zuvor von Anton Rubinstein gegründete Sankt Petersburger Konservatorium gewinnen will, bietet man ihr (als Ersatz für die während des Studiums entfallenden Konzerteinnahmen) zeitlich befristete Zahlungen  und dem Vater einen Posten im Hofministerium an. Im September 1864 tritt Ella von Schultz zur weiteren Ausbildung in das Sankt Petersburger Konservatorium ein. Ihre Lehrer sind der Direktor des Instituts, Anton Rubinstein (Instrumentation) und der Komponist Nikolaus Zaremba (Komposition) – beide unterrichteten auch Peter Tschaikowsky, der das Konservatorium von 1862-1865 besuchte –, der tschechische Komponist und Volksliedsammler Ignaz Vojáček (Musiktheorie), der russische Musikschriftsteller und Komponist Alexander Famintzin (Musikgeschichte) und der böhmische Pianist und Komponist Alexander Dreyschock (Klavier). Mit dem Diplom des „Freien Künstlers“ schließt die junge Frau 1869 ihre Ausbildung ab.

Schon während des Studiums hatte sich Elisabeth von Schultz mehr und mehr der Komposition zugewandt. Als 1870 die Aufführung ihrer russisch-orthodoxen Kirchenchöre zu scheitern droht, weil ihr Name sie als weiblich, deutscher Abstammung und protestantischen Glaubens ausweist, wählt sie das männliche russische Pseudonym „E. Adaïewsky“ (weibliche Namen enden im Russischen auf -a). Diesen Künstlernamen behält sie ihr Leben lang bei, variiert ihn aber später, indem sie ihren Geburtsnamen voranstellt („E. von Schultz-Adaïewsky“) und/oder ihren Vornamen ausschreibt („Ella von Schultz-Adaïewsky“ bzw. „Ella Adaïewsky“), womit sie sich deutlich als Komponistin bzw. Musikwissenschaftlerin zu erkennen gibt.

In den 1870er Jahren komponiert Ella Adaïewsky zwei Opern: eine einaktige Volksoper, Die Tochter des Bojaren (1873), und eine Oper in vier Akten, Die Morgenröte der Freiheit (1877), die die Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland zum Thema hat. Beide Werke gelangen trotz unermüdlicher Bemühungen nicht auf die Bühne: Intrigen und die politische Zensur verhindern die Aufführungen – manchmal erst in letzter Minute, wenn Gesangs- und Kostümproben schon stattgefunden haben. Das passiert nicht nur in Sankt Petersburg, sondern auch in Paris, Wien und Budapest und entmutigt die Komponistin in höchstem Maße. Da bleiben ‚gut gemeinte Ratschläge‘ nicht aus: „Lassen Sie Ihre Oper – Oper sein und heiraten Sie, das ist die Aufgabe der Frau“, empfiehlt ihr ein Freund 1879, und sie kommentiert: „U-ah! ich muss ein wenig gähnen. Wie oft hab‘ ich das schon hören müssen.“

1882, 36-jährig, lässt sich Adaïewsky gemeinsam mit ihrer jüngsten Schwester, der Malerin Pauline Geiger, und deren drei kleinen Söhnen in Venedig nieder. Sie knüpft Kontakte zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des venezianischen Musiklebens, trägt aktiv zum Musikleben der Stadt bei und genießt große Anerkennung als Pianistin, Komponistin und Musikwissenschaftlerin. An Kompositionen entstehen in Italien hauptsächlich Lieder, darunter die 24 Präludien für Singstimme und Klavier (1903-07) auf Texte ihres Neffen Benno Geiger. Neben der Komposition nimmt nun die musikwissenschaftliche Forschung einen breiten Raum in ihrem Leben ein. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Musik der alten Griechen und die Volksliedforschung.

Im Salon der Fürstin Schönaich-Carolath freundet sich Ella Adaïewsky 1909 mit deren Schwester Freifrau Franziska von Loë aus Bonn und ihrer Tochter Margarethe an, die in Venedig zu Besuch sind. Einer Einladung ins Rheinland kommt die 63-Jährige noch im selben Sommer nach. 1911 folgt ein zweiter Besuch – der schließlich bis zum Tode der Komponistin im Jahre 1926 andauern sollte. Anfangs pendelt sie zwischen Bonn, dem Wohnsitz Franziska von Loës, und Schloss Segenhaus bei Neuwied (dem Besitz der Königin Elisabeth von Rumänien, geborene Prinzessin zu Wied, als Dichterin auch unter dem Namen „Carmen Sylva“ bekannt), mit dessen Verwaltung Margarethe von Loë betraut ist. Seit Beginn des 1. Weltkriegs lebt sie überwiegend in Segenhaus.

Sie komponiert, schreibt musikwissenschaftliche Aufsätze für verschiedene Fachzeitschriften, erteilt Margarethe von Loë Kompositionsunterricht, musiziert mit den Wied‘schen Familienmitgliedern und den Gästen, die im nahe gelegenen Schloss Monrepos oder in Segenhaus selbst zu Besuch sind (Elly Ney und Willem van Hoogstraten, das Prisca-Quartett, das Quartett der Kölner Oper) und in Bonn mit den Bonner Freundinnen. „[...] wie gut Ella es in Bonn hat“, schreibt ihre Schwester Pauline 1909, „sie ist der Mittelpunkt von allem, gefeiert, bewundert, auf Händen getragen.“ Tatsächlich setzt sich der rheinische Freundeskreis engagiert für die Komponistin ein. Ihre Griechische Sonate für Klarinette und Klavier, 1880 entstanden, wird auf Anregung des Musikkritikers Otto Neitzel 1910 im Kölner Tonkünstlerverein von Richard Friede und Elly Ney aufgeführt und 1913 auf Kosten der Bonner FreundInnen gedruckt. Ein anonymer niederländischer Mäzen schließlich lässt 1912 ihre 24 Präludien für Singstimme und Klavier drucken.

Während des 1. Weltkrieges nennt sich die Komponistin wieder „von Schultz“ – der Name „Adaïewsky“ ist den Behörden suspekt, und es kursiert der Verdacht, es könne sich bei ihr womöglich um eine russische Spionin handeln. Die deutschen Freunde müssen für sie bürgen, jeglicher Briefkontakt ins Ausland ist ihr untersagt.

In ihren letzten Lebensjahren führt Ella Adaïewsky ein äußerst zurückgezogenes Leben. Noch 1925 veröffentlicht sie einen Aufsatz über keltische Folklore. Sie stirbt kurz nach ihrem 80. Geburtstag in Bonn am 29. Juli 1926 und wird auf dem Bonner Alten Friedhof beigesetzt.

© Renate Hüsken